Ein Leiden, das nur den Menschen befällt: Alzheimer

Rätselhafte Rückkehr in die Kindheit
(Patientenbetreuung am Beispiel des Sophien-Sanatoriums in Thambach)

Herr Schwabe, bayerischer Kammersänger, reagiert ein wenig verwirrt, als ich ihn frage, wann er denn zum letzten Mal in Bayreuth gesungen hat. Er ist, wenn ich ihn richtig verstehe, immer noch unterwegs, gastiert mal auf dieser, mal auf jener Bühne. Jetzt, bevor es gleich zum Kaffee nebenan geht, sitzt er im Salon des Hauses, in dem er abgestiegen ist. Ein vornehmer, ein sympathischer Mann, ein Herr von Welt: Kerzengerade sein Rückgrat, den Kopf leicht nach vorne geneigt, ein wenig in sich hineinlächelnd, so hat er sich auf dem mit rotem Samt bezogenen Kanapee niedergelassen und unterhält sich in leisem Plauderton mit zwei Damen. Eine galante Szene, die mich berührt. Eine Szene wie von einer anderen Welt und aus einer anderen Zeit.

Einer, dem das gar nicht gefällt, ist Herr Müller. Herr Müller ist Geschäftsmann in München, und dies hier ist sein Haus, übrigens schuldenfrei, wie er mir im Ton allergrößter Selbstverständlichkeit mitteilt. Sie alle - und er weist mit Empörung auf den Kammersänger und die anderen hier im Zimmer - sie alle sitzen in seinen, Herrn Müllers, Polstermöbeln, ungebetene Gäste, und das stört ihn. Der missachtete Hausherr gehl vor der Gruppe grummelnd auf und ab, und er duldet auch mich hier nur, nachdem ich ihm versichert habe, ich sei lediglich ein Besucher und würde bald wieder gehen.

unheilbar krank

Wo bin ich? Im Hotel, in dem der Kammersänger Schwabe wohnt? Oder im Haus des Geschäftsmannes Müller? Tatsächlich bin ich im Sophien-Sanatorium Thambach bei Mühldorf im bayerischen Alpenvorland, und die 24 Menschen, die hier leben, sind unheilbar krank: Diagnose »Morbus Alzheimer«.

Die Alzheimersche Krankheit ist das allmähliche, unaufhaltsame Verschwinden des Gehirns, genauer: der stetige Abbau von Ganglienzellen der Hirnrinde im Schläfenscheitellappen. Die Ursache der auch so genannten Hirnleistungsschwäche, die vor allem ältere Menschen im sechsten und siebten Lebensjahrzehnt befällt, ist den Medizinwissenschaftlern immer noch ein Rätsel, eine Therapie gibt es nicht.

Das Leiden, das mit dem Tod endet, beginnt ganz harmlos mit einer verringerten Merk- und Denkfähigkeit. Mit dem Fortschreiten der im üblichen Fall zehn Jahre währenden Krankheit verliert der Patient mehr und mehr die Orientierung: Er bringt Tag und Nacht, Vergangenheit und Gegenwart, Ort und Personen durcheinander. Herr Schwabe und Herr Müller, die beiden Patienten des Thambacher Sanatoriums (die Namen sind geändert), können das, was vor ihren Augen und Ohren geschieht, wohl wahrnehmen, aber nicht mehr als die Gegenwart interpretieren. Also leben sie in der Vergangenheit, soweit ihr Gehirn darauf noch Zugriff hat. Der Psychiater spricht von zeitlicher, räumlicher, situativer Verwirrtheit oder Desorientie­rung, schließlich auch von sprachlicher Desorientierung.

Der Volksmund spricht von Verkalkung, von Altersstarrsinn oder - drastisch - ganz einfach von Verblödung, und damit wird klar, dass es sich bei der Alzheimerschen Krankheit, die 1907 der Psychiater Alois Alzheimer erstmals als eine bestimmte Form von Altersschwachsinn beschrieben hat, um keine neuartige Krankheit handelt. Neu ist allerdings, dass die Alzheimersche Krankheit heute besser als vor 20 Jahren diagnostiziert werden kann, neu ist auch, dass die Medienöffentlichkeit, seitdem die Erkrankungen einiger prominenter Persönlichkeiten bekannt geworden sind, sich mit einer gewissen Sensationslüsternheit des Themas angenommen hat. Auch ein neuer Name war schnell gefunden: die »schleichende Epidemie«, als ob es sich um eine Infektion oder um ein sich ausbreitendes Umweltgift handelte.

Aber wahr ist: Weil es - im Regelfall - eine Alterskrankheit ist und weil immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter erreichen, tritt die Alzheimersche Krankheit immer öfter auf. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe schätzt, dass zwischen 790000 und 1,1 Millionen alter Menschen in der Bundesrepublik dementiell erkrankt sind, das heißt an Altersschwachsinn leiden, deren häufigste Form Morbus Alzheimer ist. Fasst man das Krankheitsbild ganz eng, dann sind eine halbe Million Menschen betroffen, in München allein beispielsweise 10000. Der Biochemiker Konrad Beyreuther, der am Heidelberger Zentrum für molekulare Biologie dem Erreger von Morbus Alzheimer auf der Spur ist, nennt dagegen wesentlich höhere Zahlen. In westlichen Ländern ist Alzheimer als Todesursache bereits an die vierte Stelle hochgeklettert. Sicher ist, dass durch die Verschiebung der Altersstruktur hin zu den Hochbetagten die Zahl der Krankheitsfälle in den kommenden Jahren weiter steigen wird.

Pflege in der Familie

Steigen wird auch die Zahl derer, die nicht mehr von ihren Angehörigen gepflegt werden. Die Familie ist zwar ohne Zweifel »der Welt größter Pflegedienst«, in der - im Falle der Bundesrepublik - über 90 Prozent aller Pflege geschieht. Der Trend aber ist gegenläufig: Eine Gesellschaft wie die unsere, die immer mobiler wird, das heißt in der die Generationen nicht mehr unter einem Dach zusammenzuhalten sind; eine Gesellschaft, in der immer mehr allein stehende Personen und kinderlose Ehepaare leben; eine Gesellschaft schließlich, in der die Kinder aus welchen Gründen auch immer für die Pflege ihrer kranken Eltern nicht selbstverständlich zur Verfügung stehen - in einer solchen Gesellschaft wird es immer mehr alte Menschen geben, die in einem Heim gepflegt werden müssen.

Das Sophien-Sanatorium in Thambach, das zum Collegium Augustinum gehört, einem großen evangelischen Sozialwerk, ist eine Modelleinrichtung, Thambach, ein ehemaliger gräflicher Herrensitz auf einer kleinen Anhöhe, inmitten eines Parkgeländes, das über einen Hektar groß ist, ist der beachtliche Versuch, geistig schwer erkrankten und pflegebedürftigen Menschen ein neues, ein »beschützendes« Zuhause unter menschenwürdigen Bedingungen zu geben, Beschützend heißt zugleich geschlossen, und wer aus der Freiheit der »Normalen« durch die stets sorgfältig überwachte Tür ins Innere des Sanatoriums vordringt, der spürt sofort: Dieses nach außen abgeschirmte Zuhause ist eine Welt für sich. Eine kleine, eine bei aller Großzügigkeit für den Kranken überschaubare Welt.

Das Sanatorium bietet seinen Bewohnern einen großzügigen Lebensraum. Mit seinen breiten übersichtlichen Gängen, mit Zimmern, die vom Grundriss und von der Größe verschieden sind, mit Ecken, Nischen und abgewinkelten Treppen, mit Klavier, Aquarium und bunten Bildern an der Wand ist das Haus auf die beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit seiner Bewohner hin ausgerichtet. Überall Kalender an der Wand und Uhren so groß wie auf dem Bahnhof: Um sich zeitlich orientieren zu können. Überall Spiegel: Damit sie sich besser sehen können. Übergroße Namensschilder an den Türen zu den Zimmern. Hier sich zurechtzufinden, kann doch nicht so schwer sein, denke ich.

Und doch: Für die Alzheimer-Patienten ist das Gedächtnis so wenige Sekunden kurz, so schwach, dass manche nicht einmal ihr Zimmer sich merken und wiedererkennen können. Andere verlegen ihre Gebisse irgendwo im Haus, und Tage später erst werden sie von einem Pfleger gefunden. Ich habe Patienten beobachtet, die jahrelang schon im Sanatorium leben und trotzdem täglich aufs neue vollkommen überrascht sind, wenn sie zum Essen gebeten werden: »Was, Essen, warum?«

Sie sind Menschen wie wir. Die erschütterndste Erfahrung, die ein Neuling im Umgang mit den Kranken macht: Die Wand zwischen ihnen und uns »Normalen« ist ganz dünn. Hat man nicht selbst sich erst neulich eines Namens nicht entsinnen können? Wer hat es nicht zum Beispiel bei einer Prüfung schon erlebt: Das Gedächtnis ist wie »blockiert«? Das passende Wort, es liegt auf der Zunge, aber will nicht 'raus. Wer träumt nicht gern in der Vergangenheit und vergisst dabei die Gegenwart? Unruhe, die in uns wühlt, ohne dass wir ein Ziel hätten! Eine Sinnestäuschung, der wir aufsitzen? Das sind nur allzu menschliche Situationen, und wir können den Alzheimer-Kranken gut nachfühlen, denen es andauernd so geht. Und Angst steigt in einem auf, dass man selbst...?

Die Alzheimersche Krankheit ist wie keine andere eine Anfrage an uns selbst, an unsere menschliche Existenz. Sie ist eine Krankheit ohne Vorbild im Reich der belebten Welt. Nur der Mensch kann von ihr befallen werden (weshalb Tierexperimente bei der Erforschung der Krankheitsgenese nicht sehr viel weiter helfen). Es ist, als ob die Erkrankten dafür bezahlen müssen, dass der Mensch seine außergewöhnliche Stellung in der Schöpfung durch die Entwicklung seines Gehirns sich erkauft hat. Die Erkrankten kehren, was ihre geistigen Fähigkeiten betrifft, zurück in die Vergangenheit, in die Kindheit, zurück an den Anfang des Lebens und aller Existenz. Sie kehren dorthin zurück, wo es auf Analysieren, Denken, Reden, Entscheiden, Lesen und Schreiben nicht ankommt, wo nur noch das Gefühl ist. Im Sanatorium kann man beobachten: Eine Hand des Pflegers, die sie berührt, eine warme Stimme, die irgendetwas sagt, Musik, die ihre Ohren erreicht, ein Mensch, der ihnen zulächelt: Das ist ihre Welt.

»Wir erleben hier den Menschen pur«, sagt Fritz Schillhuber, der Betriebsleiter von Thambach, Pfleger mit langjähriger Erfahrung in der Psychiatrie.

Schillhuber, der mit 22 Mitarbeitern (darunter auch Teilzeitkräfte) eine Pflege rund um die Uhr für die 24 Bewohner organisiert, antwortet auf die Frage nach dem Ziel seiner Arbeit mit einem Satz: »Wir wollen die ganze Persönlichkeit des Kranken erhalten.« Ob es denn bei einer unaufhaltsam fortschreitenden Krankheit für den Betreuer überhaupt so etwas wie Erfolgserlebnisse gibt, möchte ich wissen. Schillhuber erzählt die Geschichte einer ehemaligen Lehrerin, die in einem Zustand des vollkommenen Verfalls nach Thambach kam: Sie konnte Stuhl und Urin nicht halten, war in sich gekehrt, niedergeschlagen und schien unansprechbar, äußerte sich in wirren Phantastereien, zu denen keiner einen Zugang fand.

Die Eingewöhnung begann mit einem regelmäßigen Toilettentraining. Durch eine mäßige Medikation konnte ihre zerstörte Darmflora zum Teil wiederhergestellt werden. Um einer Verwahrlosung vorzubeugen, achteten die Pfleger besonders auf anständige Kleidung und ein ansehnliches Äußeres. Schließlich wurde mit der Kranken gemeinsam - und das war wohl
entscheidend - eine Pflegeplanung erstellt: »Wir wecken Sie zu bestimmten Zeiten, um Ihnen den Toilettengang zu erleichtern«, hieß der Vorschlag der Pfleger, auf den die Dame mit spürbarem Schwung reagierte. Erste Erfolge. Und dann, eines Tages, äußert die frühere Lehrerin, die bereits am Ende schien, von sich aus einen Wunsch: »Ich sehe schlecht, ich möchte eine neue Brille haben.« Schillhuber konstatiert im Nachhinein: »Das war der Durchbruch zur Besserung. Sie hatte sich aufgegeben, weil der Toilettengang nicht mehr klappte.« So ist es: Blasen- und Darmschwäche (medizinisch: Inkontinenz) kann im schlimmsten Fall eine Schwächung der ganzen Persönlichkeit nach sich ziehen. »Wenn ein Erwachsener die Kontrolle über seinen Schließmuskel verliert, kommt eine Kettenreaktion von Hilflosigkeit, Scham, Schuldgefühl und Selbstisolation in Gang«, heißt es in einer Veröffentlichung der Deutschen Inkontinenz Liga (DIL), die die Inkontinenz aus der Tabuzone befreien möchte. Die Alzheimer-erkankte Dame, die mit ihrer Inkontinenz fertig wurde, lebte in Thambach wieder auf, ließ sich besuchen, diktierte Briefe und fuhr schließlich - was für ein geschlossenes Haus ungewöhnlich ist - mit einer Begleitperson für zwei Tage in den Bayerischen Wald, um eine frühere Kollegin zu besuchen.

ein guter Junge

Ein Ausnahmefall zwar, eine Pflegschaft unter besonders glücklichen Umständen - aber an ihr wird deutlich, worauf es bei der Betreuung von Alzheimer-Patienten ankommt: Man muss sie in ihrer Eigengeschöpflichkeit, in ihrer Unverwechselbarkeit annehmen, so wie sie sind. Das haben sie verdient am dunklen Ende eines geistig erfüllten Lebens, und sie danken es dem Pfleger auch. Sie können strahlend lächeln und ihm einen guten Morgen wünschen. Sie können herzhaft über sich lachen, wenn sie die Strumpfhosen über die Schuhe gezogen haben. Und sie können den Pfleger sozusagen an Kindes statt in ihre Familie aufnehmen: »Du bist mein guter Junge.«

Lutz Taubert