"Das man mir helfen will, das ist das Schlimmste"

Ich wachte eines Morgens auf und wollte aufstehen, bemerkte dann aber, dass ein Arm völlig steif und eine Gesichtshälfte gefühllos war, dass ein Bein wie ein schwerer, lebloser Block an meinem Körper hing. Zunächst verstand ich noch gar nicht, was geschehen war. Nur allmählich wurde mir klar, wie abrupt ich nun aus dem gesellschaftlichen Leben gerissen worden war. Ich kam mir .wie ein Nichtsnutz vor, der sich bei allem helfen lassen musste.

Nicht einmal auf die Toilette konnte ich allein gehen. Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich dazu je im Leben wieder Hilfe benötigen würde; vor allem am Anfang habe ich es als totale Erniedrigung empfunden - auch für die Pfleger und Pflegerinnen. Aber sie meinten, es sei für sie etwas Alltägliches, sie seien schließlich dafür da. Für mich war es einfach schrecklich; ich fühlte mich wieder als ein Kind. Dann kamen die ersten Gehversuche - zuerst mit der Hilfe zweier Schwestern, später mit nur einer Begleiterin. Es dauerte lange, bis ich nur einige Meter allein gehen konnte.

So viele Fragen quälten mich: Herr Doktor, werde ich je wieder richtig gehen können und spazieren gehen wie früher? Ich erhielt direkte Antworten, aber ebenso oft nur vage Auskünfte. Das hat mich ganz verunsichert. Mein Leben war völlig aus dem Gleichgewicht geraten - so plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Manchmal kamen mir ohne äußeren Anlass die Tränen. Besonders am Anfang hatte ich mich oft einfach nicht in der Hand. Wenn ich alten Freunden begegnete, musste ich - wie sehr ich mich auch dagegen wehrte - wieder weinen. Am schlimmsten fand ich es, wenn alle mir helfen oder mich stützen wollten. Selbstverständlich war es nur gut gemeint, aber damit wurde mir meine Abhängigkeit jedes Mal vor Augen geführt. Ich wollte un­bedingt lernen, wieder alles selbst zu machen. Oder man zeigte Mitleid und sprach manchmal zu mir wie zu einem Kind - in einem Ton, als ob man mich nicht ganz für voll nahm. Aber ich bin kein Kind geworden.

Ich gebe nicht auf. Ich muss mein Selbstvertrauen wieder finden. Dabei kann mir niemand helfen. Ich will leben, denn ich habe vieles, wofür es sich zu leben lohnt: mein Haus, meine Frau, die Natur, die Freunde. Es kommt mir so vor, als müsste ich größtenteils neu geboren werden. Ich bin dankbar für alles, was ich habe und noch kann, für mein Zuhause, die Tiere und die prächtige Umgebung hier."

Das ist die Geschichte eines 75jährigen Mannes. Seinen Beruf, dem er viele menschliche Kontakte verdankte, hatte er sein Leben lang mit großer Freude ausgeübt. Nach seiner Pensionierung hatte er viele Reisen unternommen und immer noch an wissenschaftlichen Diskussionen und Kongressen teilgenommen. Als er an einem Wochenende Golf spielte, verlor er plötzlich den Orientierungssinn. Damals begann, was er noch nicht ahnen konnte. Am nächsten Morgen erwachte er halbseitig gelähmt. Diese Geschichte erzählte er mir ein halbes Jahr nach der Gehirnblutung, als es gerade Winter war. Er fürchtete den Frühling mit seiner ganzen Symbolik des neu erwachenden Lebens, während der eigene Körper den Tod gespürt hatte. Im Winter schien er sein Schicksal besser ertragen zu können. Dank seiner Lebensumstände neigte er nicht zur Resignation; mit großer Energie arbeitete er an seiner Genesung.

Geschichten wie diese veranschaulichen, wie einschneidend ein solches Erlebnis sein kann, und wie sehr man das Selbstwertgefühl eines Patienten in solcher Lage zu respektieren hat. Man darf ihm nicht zu viel abnehmen und ihn wie ein Kind behandeln, denn damit würde der Pflegende - wenn auch unbewusst - die Abhängigkeit der gepflegten Person betonen. Stattdessen soll man die Unabhängigkeit des Patienten, nämlich seine noch vorhandenen Fähigkeiten, ins Auge fassen. Es stärkt den Menschen, wenn seine Kraft und seine Möglichkeiten gefordert werden. Wird er immer wieder auf das Tote in ihm angesprochen, verliert er seinen Lebenswillen und seine Lebensfähigkeit.

Marinus van den Berg