Kompetenz im Alter

Im Umgang mit älteren Menschen ist es notwendig, Vorurteile über das Alter - wie sie in unserer Gesellschaft noch häufig bestehen - aufzugeben und danach zu fragen, was jeder einzelne ältere Mensch noch kann. Ältere Menschen verfügen über besondere Erfahrungen, die sie sich im Laufe eines langen Lebens erworben haben und auf die niemand in unserer Gesellschaft verzichten kann. Aus diesem Grunde ist es gut, wenn man älteren Menschen auch die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Erfahrungen mitzuteilen und einzusetzen - z. B. in einem Gespräch, in gemeinsamen Unternehmungen.­

Ältere Menschen besitzen aber nicht nur viele Erfahrungen, sie sind auch in der Lage, neu hinzuzulernen. Geben wir älteren Menschen die Möglichkeit, auch weiter zu lernen, neue Erfahrungen zu machen, dann werden sie sich auch gegenüber neuen Eindrücken nicht verschließen, sondern sich eher diesen gegenüber öffnen.

Genauso wichtig wie das Lernen ist es aber auch, Körperfunktionen zu trainieren und ständig einzusetzen. Natürlich, im Alter werden bestimmte Körperfunktionen und bestimmte Abläufe mehr Zeit benötigen als in früheren Lebensabschnitten, jedoch ist es trotzdem wichtig, dass sich der ältere Mensch auch weiterhin körperlich in Bewegung hält, um auf diese Weise zu verhindern, dass sich körperliche Fertigkeiten weiter zurückbilden. Aus diesem Grunde wäre es auch ein Fehler, würden wir älteren Menschen alle Aufgaben abnehmen, ließen wir sie nichts mehr alleine machen. Vielmehr müssen wir immer darauf achten, dass der ältere Mensch seine Selbstverantwortung wahrt, dass ihm die Dinge, die er alleine tun kann, nicht abgenommen werden. Und auch dann, wenn ein Mensch behindert ist, kann man ihm möglicherweise helfen, bestimmte Funktionen und Fähigkeiten wiederzugewinnen.

Ältere Menschen suchen nach Möglichkeiten des Kontakts mit anderen Menschen. In der Regel finden sie diesen auch und haben ein gutes Verhältnis zu ihren Angehörigen sowie zu Freunden. Jedoch kann es auch geschehen, dass bei stark belastenden Lebensereignissen - wie z. B. Krankheit und Verlust des Ehepartners - ältere Menschen Kontaktmöglichkeiten nicht mehr aufgreifen oder sich sogar zurückziehen. Aber auch das Umfeld tendiert ja häufig dazu, jene Menschen zu meiden, die seelisch stark belastet sind. Hierbei ist immer zu bedenken: Bieten wir auch diesen Menschen unseren Kontakt an, drängen wir uns aber nicht auf! Geben wir ihnen die Möglichkeit, trotz einer stark belastenden Lebenssituation das Gefühl zu haben, einer tragfähigen Gemeinschaft anzugehören, nicht alleine gelassen zu werden, ohne dass wir sie aber zu dem Kontakt zwingen. Zur "Kompetenz im Alter" gehört auch die Fähigkeit, sich und seine Wünsche und Bedürfnisse anderen Menschen mitzuteilen.

Möglicherweise hat der betreffende Mensch schon lange nicht mehr Gelegenheit gehabt, mit anderen Menschen zusammenzukommen und eine tragfähige Gemeinschaft zu erleben. Da kann es eine große Hilfe sein, wenn wir ihm die Möglichkeit des Kontakts anbieten, damit er sich auf diese Weise wieder stärker öffnet und neues Vertrauen zu den Menschen findet.

Ältere Menschen haben ein starkes Verlangen danach, ernst genommen zu werden und ihre Selbstverantwortung aufrechtzuerhalten. Auch wenn ein älterer Mensch auf Unterstützung und Hilfe angewiesen ist, dürfen wir ihm diese Selbstverantwortung nicht nehmen, dürfen wir ihn nicht "überversorgen". Vor allem aber sollten wir immer fragen, was dieser Mensch selbst noch kann. Viele Menschen, die auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sind, sind dankbar, wenn sie uns auch in manchen Dingen helfen können - z. B. durch einen Rat, durch Anteilnahme und dergleichen mehr. Geben wir ihnen die Möglichkeit dazu, setzen wir uns zu ihnen, hören wir zu, was sie uns mitteilen wollen. Und wir werden sehen, dass sie viel zu sagen und zu berichten haben.

Dr. Andreas Kruse, Mitarbeiter am Gerontologischen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Ein Fallbeispiel: Toningenieur im Ruhestand

Herr E., 83 Jahre, verwitwet, seit drei Jahren Bewohner des Altenheims in X, Toningenieur bei einem großen Musikverlag, seit 18 Jahren in Ruhestand, aber kleinere Beratungsverträge bis vor acht Jahren.

Herr E. fühlt sich für die Lautsprecheranlage des Vortragsraums verantwortlich. Seit kurzem ist ein neues System eingebaut worden, mit dem Herr E. nicht zurecht kommt.

Herr E. ist schwerhörig und gehbehindert.

An einem Abend, fünf Minuten vor Beginn eines Vortrags, 80 Altenheimbewohner sind gekommen:

Herr E. hat die Lautsprecheranlage eingeschaltet. Bei der Sprechprobe kommt es zu akustischen Rückkoppelungen, doch Herr E. hört es nicht.

Der Referent spricht ihn an, doch Herr E. sagt: "Das ist meine Sache." Zuhörer beschweren sich über die Lautsprecheranlage. Kurz entschlossen schaltet der Referent das Mikrophon ab, weil er eine kräftige Stimme hat. Doch Herr E. bemerkt es, er tobt:

"Als Fachmann lasse ich mir das von Ihnen nicht gefallen. Ich habe schließlich eine Berufserfahrung von vielen Jahrzehnten."

Wutentbrannt verlässt er den Saal.

Fragen

1. Was ist hier passiert?
2. Wie kann Herrn E. geholfen werden?
3. Wie hätte dieser Vorfall verhindert werden können?