Schade dass du blind bist ...

"Fritz Kögel, der hier überfreundliche Hilfestellung und echte Betroffenheit, aber auch Hilflosigkeit und Flucht, über vielerlei Reaktionen bei seinen Begegnungen mit Sehenden berichtet, erblindete erst vor drei Jahren. Er kennt also die vielfältigen Gemütsbewegungen der Sehenden als einer, der sich täglich vor seiner Erblindung mit ihnen auseinandersetzen musste. Denn Fritz Köge! war bis zu diesem Augenblick Lehrer an der Staatlichen Schule für Sehbehinderte in Waldkirch. Heute ist er es wieder. Nach einer blindentechnischen Grundausbildung hat Fritz Kögel in seiner alten Schule seine Arbeit wieder aufgenommen. Jetzt als Blinder.''

Wer lässt sich nicht gerne bewundern! Wer möchte aber als Behinderter bewundert werden?

Ich erlebe es immer wieder, dass jemand zu mir sagt: Ich bewundere Dich! Es stimmt: Ich kann mich gut und sicher bewegen (gehen, laufen, springen, tanzen, Sport treiben, Gymnastik machen, schwimmen usw.). Ich kann mich gut orientieren - ich bin nicht hilflos.

Ja, ich brauche die Hilfe anderer Menschen und nehme sie gerne in Anspruch. Ich verspüre keine Bitterkeit. Ich komme mit mir und meiner Umgebung gut zurecht. Ich habe Freunde und Bekannte. Ich unternehme viel, reise gern und bilde mich weiter.

Ich kann lachen und fröhlich sein, mich gut und schlecht fühlen. Ich kann traurig sein, Enttäuschung erleben, hoffen und glücklich sein.

Ich kann gut für mich sorgen, ich kann mir helfen lassen und selbst auch meine Hilfe anbieten.

Ich kann lieben und leben, loben und danken, glauben und mich freuen. Ich kann Freude bereiten und habe Freude am Leben.

Manche Leute fragen sehr vorsichtig, ob sie fragen dürfen. Ich beantworte gerne Fragen zu meiner Erblindung, weil ich denke, es ist nun mal ein Teil meiner Person, den ich auch zeigen kann. Außerdem hilft es dem Fragenden, neue Erfahrungen zu machen, zu lernen und in anderen, ähnlichen Situationen sich besser zurechtzufinden.


In diesem Sinne möchte ich einige Erlebnisse erzählen:

Wie schon erwähnt, ich bin viel unterwegs und komme dadurch auch viel mit Leuten zusammen. Die Begegnung mit anderen erlebe ich sehr unterschiedlich. Da gibt es die freundlich-zurückhaltende Art, eine kleine Hilfestellung ohne viel Aufwand, sachlich und direkt. Mir ist das sehr angenehm.

Ich erlebe aber auch Hilflosigkeit, Durcheinander, Entsetzen, Flucht, Be­wunderung und echte Betroffenheit. Kinder erlebe ich häufig sehr direkt, offen, neugierig, interessiert und auch mitfühlend. Das kann sehr viel Spaß machen.

Einmal war ich mit Freunden spazieren und es waren noch Leute und Kinder dabei, die ich nicht kannte. Ein etwa zwölfjähriger Junge erfuhr während des Spaziergangs - ich weiß nicht mehr wie -, dass ich blind bin. Im Verlauf einer längeren Rast stellte er sich dann vor mich hin - man erzählte mir das hinterher - und schnitt Grimassen. Ich zeigte keine Reaktion.

Der Junge verstärkte seine Bemühungen, irgendetwas zu tun, worauf ich reagiere. Er setzte mit Boxhieben auf mich an, ohne mich zu berühren. Er fuchtelte vor meinem Gesicht herum - ich nahm das überhaupt nicht wahr. Dann berührte er mich sehr vorsichtig. Ich reagierte - ich weiß nicht mehr wie. Er zupfte mich und zwickte mich.

Es entstand ein lustiges Spiel. Er neckte mich irgendwie, und ich versuchte, ihn zu ergreifen. Das ging eine ganze Weile. Er probierte aus, wie flink ich bin, ob ich feststellen konnte, von welcher Seite er auf mich zukam, ob ich ihm nachlaufen konnte. Dann auf einmal nahm er mich an der Hand und führte mich durch dichtes Gestrüpp, sehr vorsichtig und umsichtig; ich hatte keine Angst und ließ mich voll darauf ein. Es war ein Erlebnis für uns beide, einander so gut verstehen zu können.


Ein andermal erlebte ich die Betroffenheit eines Kindes so stark, dass ich von seiner Betroffenheit selbst betroffen war. Nachdem wir eine Weile miteinander gespielt hatten, sagte das Kind plötzlich: "Schade, dass du blind bist." Und es verhielt sich eine Zeitlang ruhig und nachdenklich. Auf diese Reaktion von einem Kind war ich nicht gefasst.

 

Sehr offen verlief eine Begegnung mit einem Mann bei einer Bahnfahrt. Ich saß allein im Abteil. Er trat ein, grüßte, und nach einer Weile fragte er: "Sie haben einen weißen Stock, sind Sie blind?" Ich bejahte. Er hatte sehr gut beobachtet. Der Stock ragte unauffällig ein wenig aus meiner Tasche hervor. Wir kamen sehr schnell ins Gespräch. Er fragte, ob er fragen dürfe, und ich spürte aus seinen Fragen Betroffenheit und Neugier. Er äußerte Erfahrungen und Vorstellungen, und ich erzählte und beantwortete seine Fragen, so gut ich konnte und wollte. Durch seine Art der Anteilnahme fiel es mir leicht, im Gespräch zu bleiben und viel von mir zu erzählen. In diesem Fall erfuhr ich, dass es sehr leicht sein kann, jemandem nahe zu kommen und sich jemandem sehr offen mitzuteilen.


Manchmal frage ich mich, was Sehende überhaupt sehen. Ist Sehen im wesentlichen von bestimmten vorgegebenen Mustern bestimmt, und inwieweit sind Menschen fähig und bereit, immer Neues und anderes als das Gewohnte sehen zu lernen.


Im folgenden Beispiel erzähle ich, wie zwei Damen mit mir umgingen. Sie sahen sicherlich nur, was in ihrer Vorstellung zu sehen möglich war.

Es geschah, als ich mit der Bahn unterwegs war. Zum Umsteigen hatte ich mir einen Hilfsdienst bestellt. Ich konnte auf demselben Bahnsteig von einem Zug in den anderen wechseln.

Der Zug hielt. Ich stand schon an der Abteiltür und öffnete. Da schallte es mir entgegen: "Sind Sie der blinde Herr?" "Ja !" Dann ertönte der Ruf: "Ich hab ihn!" Jetzt griffen zwei Hände nach mir und zerrten mich aus dem Wagen. Ich sagte nochmals, wohin ich umsteigen wollte. Im Nu war auch eine zweite Frau da, und jetzt zog die eine mich am Arm und die andere an meiner schweren Tasche, um mich zum Zug zu bringen.

Die Züge hatten zu allem Übel noch Verspätung, und das Umsteigen musste schnell gehen. Die eine zog nach links, die andere nach rechts. Der Zug wurde schon abgepfiffen. Da schrie eine: "Halt, da will noch ein Blinder mit!"

Endlich hatte ich einen Eingang. Ich wurde geschoben und halb hochgehoben. Als ich im Wagen stand, fand ich mich sofort zurecht. Ich hörte nicht mehr, was sie noch hinterher riefen. Fürs erste hatte ich genug. Ich suchte mir einen Platz und wollte erst mal Ruhe haben. Ich schwitzte, und mir war schlecht. Es ärgerte mich, dass ich mir das alles hatte gefallen lassen.

Dieses Beispiel ist einmalig. Davor und danach habe ich nichts Ähnliches erlebt. Ja, ich kann sogar sagen, dass die Hilfsdienste an Bahnhöfen sehr prompt reagieren und sich sehr geschickt und unkompliziert verhalten.