Der Dreckspatz

Eines Tages kam Peggy, die Amerikanerin, zu uns, um uns bei unserer Arbeit zu helfen. Peggy war ein wunderschönes Mädchen. Sie war so schön, dass die Leute auf der Straße sich nach ihr umsahen. Und das Schönste an ihr war, dass sie immer aussah, als hätte sie gerade ein Bad genommen und sich umgezogen. Sie sagte immer: "Schmutz macht mich krank."

Am nächsten Morgen zeigte ich ihr die Siedlung. Sie machte ganz erschreckte Augen. "Mein Gott", sagte sie immer wieder, "wie schrecklich schmutzig!" Und als wir dann die Hütte betraten, in der wir arbeiten wollten, wäre sie fast auf der Türschwelle schon wieder umgekehrt. Es sah wirklich schrecklich aus in der Hütte. Die Witwe, die mit ihrem kleinen Jungen in ihr wohnte, war schon seit Wochen krank und konnte nicht mehr recht für sich sorgen.

Es roch abscheulich, als wäre hier tagelang nicht gelüftet worden. Auf dem Spülstein und dem Herd türmte sich das unaufgewaschene Geschirr. Der Mülleimer lief über. Der Boden war mit Unrat bedeckt. Hunderte von Fliegen schwirrten umher. Und das Bejammernswerteste war der kleine Junge. Er lag neben seiner Mutter auf dem Bett und schlief. Vielleicht vier Jahre alt. Sein mageres Körperchen war in unsagbar schmutzige Lappen gehüllt. Das schwarze Haar war verklebt und verfilzt. Aus dem Mund rann ihm der Speichel. Er wachte auf, als wir näher traten. Sofort hing sein Blick wie gebannt an Peggy.

"Tante", sagte er wie verzaubert. Wahrscheinlich hatte er noch nie etwas so Schönes gesehen wie Peggy.

"Schöne Tante!" Und juchzte laut. Er glitt vom Bett herunter. Er breitete die Arme aus und kam auf Peggy zugelaufen. Ich sah, wie sie totenbleich wurde. "Nein", sagte sie. "Nein!" Und wich zurück. Aber das Kind setzte seinen Weg fort und wollte sie offenbar umarmen. "Geh weg!" schrie Peggy außer sich. "Geh weg!" Und als der Junge immer näher kam, tat sie etwas Schreckliches. Sie gab ihm einen harten Stoß vor die Brust, dass er hintenüber stürzte und bitterlich anfing zu weinen. Dann stürzte sie hinaus, ebenfalls weinend.

Ich ging ihr nach. Aber sie lief wie gehetzt vor mir her. Ich fand sie erst im Lager wieder. Sie war dabei, ihre Koffer zu packen. "Aber Peggy", sagte ich, "das ist doch nicht dein Ernst." "Doch", sagte sie, "ich reise ab. Ich halte das nicht aus. Es ist zu widerlich."

"So", sagte ich, "Menschen in der Not sind dir widerlich. Möchte wissen, warum du überhaupt gekommen bist. Schließlich ist das hier kein Sommerurlaub. Wir sind hier, weil wir Christen sind und weil diese Menschen uns brauchen."

"Es hat keinen Zweck", sagte sie. "Ich ertrage den Schmutz einfach nicht. Ich habe mir eben zuviel zugetraut." Und damit nahm sie ihr Gepäck – das meiste hatte sie ja noch gar nicht ausgepackt - und ging, nein, lief hinaus, als könnte sie es auch nicht eine Minute länger bei uns aushalten.

Ich folgte ihr. Ich nahm ihr die Koffer ab. Ich wollte sie zur Bahn bringen, vielleicht überlegte sie es sich doch noch anders. Der Weg zur Straßenbahn führte an dem Haus vorbei, in dem wir gerade gewesen waren. Und das war unser Glück.

Wir sahen den Jungen schon von weitem. Er saß auf der Straße und beguckte sich die vorüberfahrenden Autos. "Komm bloß", sagte Peggy entsetzt. "Komm schnell!" Und sie ging weiter, so rasch sie konnte. Aber der kleine Junge hatte sie schon gesehen. "Tante", schrie er und breitete wieder seine Ärmchen aus. "Tante", und juchzte.

Da blieb Peggy wie angewurzelt stehen. "Mein Gott", sagte sie, "und ich habe ihm doch weh getan. Ich habe ihm doch weh getan!"

Dann ging alles sehr schnell. Die beiden setzten sich zur gleichen Zeit in Bewegung, auf der einen Seite der schmutzige kleine Junge, auf der anderen Seite die schöne, vornehme Peggy. Mit ausgebreiteten Armen liefen sie auf­einander zu. In dem Augenblick kam ein Auto angerast. "Halt", schrie ich. "Bleib stehen! Ein Auto!" Denn sie mussten beide unfehlbar in den Wagen hineinlaufen. Aber sie hörten nicht. Mitten auf der Straße hockte Peggy sich nieder und fing den Kleinen in ihren Armen auf. Das Auto kam knapp einen Meter vor ihnen mit kreischenden Bremsen zum Stehen.

Es war ein seltsames Bild. Das schöne, vornehm angezogene Mädchen, das den kleinen, schmutzigen Jungen im Arm hielt und immer wieder abküsste, und davor der Autofahrer, der vor lauter Entgeisterung gar nicht zum Schimpfen kam. "Völlig übergeschnappt, was?" fragte er. "Ja", sagte ich und lachte. Kopfschüttelnd kletterte er wieder in seinen Wagen. Ich schob Peggy hinüber auf den Bürgersteig. "Und was machen wir jetzt mit den Koffern?" fragte ich. "Vielleicht trägst du sie wieder nach Hause", sagte Peggy. "Ich werde inzwischen diesen Dreckspatz hier säubern."